Register-Sprachen: Wer bin ich und wenn ja, wieviele?
- Michela Gösken
- 26. Feb.
- 4 Min. Lesezeit
Vor einigen Wochen sass ich an der Tramhaltestelle und hatte das Vergnügen, zwei achtjährigen Jungs bei ihrem semi-philosophischen Diskurs zuzuhören. Er ging so:
Bro Hey, Diggah, wie spät?
Diggah Bro, weiss nicht, meine Alte hat mir mein Handy weggenommen.
Bro Bro, Alter, deine Erziehungsberechtigte ist voll cringe.
Die sollte mal auf Lock machen!
Diggah Same.
Bro Akh, was läuft jetzt? Gamen oder chillen?
Diggah Nein Pascal, ich denke nicht – muss meine Schwester vom Kindergarten abholen.
Bro Mann, Diggah, die Kerl*in ist doch voll NPC. Yolo!
Diggah Schon. Aber sonst krieg ich mein Handy nicht zurück.
Bro Hölle nein, Alter, das wäre voll uncool für deine Aura.
Diggah Yurr. Siuuu Tram!
Bro Bro, Tschau Kakao.
Diggah Same.
Eltern am Rande des Kommunikationszusammenbruchs
Sollten Sie kein Wort verstanden haben, befinden Sie sich in bester Gesellschaft: Sogar muttersprachlich deutsche Eltern verzweifeln am Jugendslang ihrer Sprösslinge und legen sich am besten ein saisonales Nachschlagewerk an, um zu verstehen, mit welchen neuen Modewörtern ihre Kids dieses Jahr um die Ecke kommen – denn es sind garantiert nicht dieselben wie das Jahr davor.
Die Sprachwissenschaftler nennen Teenager-Slang eine Registersprache und der oben stehende Dialog würde angepasst an Alter und Situation in etwa so klingen, wenn er zwischen Ihnen und Ihrer besten Freundin stattfände:
BFF Moin, du, sag mal, wie spät ist es denn gerade?
Sie Keine Ahnung, meine Jüngste hat mir mein Handy gemopst.
BFF Deine Kleine ist ja eine Nummer! Die sollte sich mal benehmen lernen!
Sie Finde ich auch.
BFF Sag mal, was ist der Plan für heute Nachmittag? Bingen oder abhängen?
Sie Weder noch, ich muss die Kleine vom Kindergarten abholen.
BFF Ach, nee, ne? Findet die nicht alleine nach Hause?
Gönn dir doch mal etwas Me-Time!»
Sie Würde ich gerne, aber sonst kriege ich mein Handy nicht zurück.
BFF Na, das wäre natürlich eine Katastrophe.
Sie Eben. Oh, schau, da kommt das Tram!
BFF Na, dann. Schönen Tach noch.
Sie Ebenso.
Die cringe Sprache der Erziehungsberechtigten
Wieder nichts verstanden? Tja, ich fürchte, wir Erwachsenen sind kein Stück besser als unsere lieben Kleinen, nicht wahr? Auch wir sprechen mit Freunden eine Registersprache, die gespickt ist von Insider-Vokabular, Modewörtern, Redewendungen, die Erwachsene für cool und trendy halten, während ihr Nachwuchs sie bestenfalls peinlich oder eben cringe finden.
Jetzt aber bitte mal ohne Flachs!
An Ihrer Arbeitsstelle würden Sie natürlich mit dieser Art zu reden nicht durchkommen. Dort würde das Gespräch – wieder angepasst an die Situation – möglicherweise wie folgt klingen.
MA DeWinter Entschuldigen Sie, Frau Sommer, könnten Sie mir sagen,
wie spät es ist?
MA Sommer Leider nein, Frau DeWinter – meine Jüngste hat heute
morgen mein Handy mitlaufen lassen.
MA DeWinter Ach, ja? Ihre Jüngste ist ja ein Schlingel!
MA Sommer Allerdings.
MA DeWinter Wie ist denn der Plan für heute Nachmittag?
Sollen wir noch eine Sitzung abhalten oder
am Projekt weiterarbeiten?
MA Sommer Nun, es ist so, dass ich, wenn es möglich ist, heute früher
gehen sollte, weil ich meine Tochter im Kindergarten
abholen muss.
MA DeWinter Ach, so, ja, stimmt, es ist ja Mittwoch. Schade, dass Sie
nicht hier sind, Karl feiert heute seinen Letzten, das wird
bestimmt launig.
MA Sommer Das glaube ich wohl, aber wenn ich die Kleine nicht abhole,
bekomme ich mein Handy möglicherweise nie wieder.
MA DeWinter Da haben Sie auch wieder recht. Das wäre natürlich
suboptimal.
MA Sommer Das sehe ich genauso. Huch, gleich fährt mein Tram,
ich sollte wohl los.
MA DeWinter Na, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Nachmittag.
Wir sehen uns dann morgen in alter Frische wieder.
MA Sommer Danke gleichfalls und viel Spass bei der Abschiedsfeier.
Täglich grüsst das Schulbuch
So, das haben Sie nun aber bestimmt besser verstanden – dieser Sprache dürften Sie bereits in den Lehrbüchern begegnet sein. Etwas formell, etwas steif vielleicht, aber eben auch mit professioneller Distanz. Wieder eine Register-Sprache, diesmal für ein berufliches Umfeld, wo Soft-Skills, Höflichkeitskonzepte und Respekterweisungen vertrauensbildende Massnahmen darstellen und den Teamgeist fördern.
Wir sollten alle einen Oscar bekommen!
Und so gibt es unzählige Register-Sprachen, weil es in unserem komplexen modernen Leben unzählige Beziehungen, Situationen und Anlässe gibt, wo wir jeweils wie Schauspieler in die gerade geforderte Rolle schlüpfen: Mal sind wir Eltern, mal Vorgesetzte, mal Kunden, mal sprechen wir mit der Polizei, dann wieder mit dem Hund, mal telefonieren wir mit der Helpline eines Möbelgeschäfts, dann wieder mit der Schwiegermutter – und jedes Mal benutzen wir eine andere Sprache, ein anderes Vokabular, ja, manchmal sogar eine andere Grammatik.
Kleider machen Leute, Register-Sprachen machen sozial kompatibel
Wer also eine neue Sprache lernt, beginnt in den Anfängerklassen zuerst einmal mit der Standardsprache, die etwas steril und roboterhaft klingt. Doch spätestens ab Lernstufe B1 werden Register-Sprachen immer wichtiger, denn Sie müssen sich mit der neuen Sprache ja genauso in unterschiedlichen Situationen und Beziehungen adäquat verhalten können, wie Sie dies in Ihrer Muttersprache zu tun imstande sind.
Wo ist der Bahnhof? - die Spitze des Eisbergs
Sie sehen also: Informationsaustausch ist eigentlich nur ein kleiner Teil davon, was Sprachen täglich leisten müssen. Wenn Sie als Anfängerin noch Welpenschutz geniessen und Ihren Chef ohne Höflichkeitsfloskeln geradeheraus fragen "Wie spät ist es?" oder "Wo ist der Bahnhof?", werden Sie allein schon dafür gelobt, dass Sie zumindest versuchen, Deutsch zu sprechen. Doch nach einem Jahr wird von Ihnen erwartet, dass Sie dieselbe Frage mit allen Soft-Skill Add-Ons stellen: "Bitte, entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen, wie spät es ist?"Und es bleibt Ihrem Chef vorbehalten, in seiner Vorgesetzten-Register-Sprache ultra knapp zu antworten: "Gleich Fünf. Schluss für heute."
Wieviele Erbsen sind im Glas?
Ja, Schluss für heute. Sie dürfen nun eine schlaflose Nacht damit verbringen, sich zu überlegen: "Wer bin ich und wenn ja, wieviele?" Und wenn Sie fertig sind mit Zählen, und die Anzahl Ihrer unterschiedlichen sozialen Rollen kennen, dann erst wissen Sie, wie viele Argumente es gibt, Deutsch zu lernen und Appetit auf Register-Sprachen zu bekommen, um Ihre sozialen Kontakte zu stärken..
Da ich mich sowohl als Theaterregisseurin als auch als Autorin andauernd mit Register-Sprachen auseinandersetze, kann ich Ihnen versprechen, dass wir bei German live! sehr viel Spass miteinander haben werden, Register-Sprachen zu lernen, sodass Sie kaum überrascht sein dürften, wenn Sie in der Telc-Prüfung beim Hörverstehen eine Register-Sprache serviert bekommen. Sie werden nur die Schultern zucken und sich sagen: "LOL, kenn ich, kann ich."
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